Ich möchte mit 67 den Mararthon laufen
„Schon sehr lange hegte ich den Wunsch, einmal in meinem Leben den Marathon in New York zu laufen. Als ich vor zwei Jahren mit 63 Rentner wurde, packte ich diesen Traum an. Zunächst ging ich in ein Sportgeschäft und kaufte mir Sportschuhe, die speziell für den Langlauf geeignet waren. Hinzu kamen atmungsaktive Shirts und Hosen, ein Schweißband für Stirn und Handgelenk sowie eine spezielle Uhr, mit der ich während des Trainings meinen Puls messen konnte. Ein Checkup bei meinem Hausarzt gehörte natürlich auch dazu.
Körperlich stand ich bei null. Schon nach 50 Metern war ich außer Atem. Dennoch machte ich weiter und setzte mir jeden Tag ein neues Streckenziel oder wiederholte die Streckenlänge mehrere Tage hintereinander. Aus 50 Metern wurden 80, 120, 200 Meter u. s. w.
Meine Familie und einige Freunde hielten mich für verrückt und meinten, ich würde dieses Ziel nie erreichen. Immer mal wieder witzelten sie über mein Vorhaben und nahmen mich diesbezüglich überhaupt nicht ernst. Zerrungen, Muskelkater, Blasen an den Füßen, hier und da mal Knieschmerzen blieben nicht aus. Darüber zu klagen, lag mir fern, um mir keine weiteren dummen Sprüche anhören zu müssen.
Im Internet erkundigte ich mich danach, wie ich als völlig untrainierter Mann, mich langsam aber sicher körperlich und konditionell aufbauen konnte. Ich meldete mich in einem Fitnessstudio an, in dem ich sehr gut beraten und betreut wurde. Hier fand ich dann auch die ersten Personen, die mich positiv unterstützten und genau wussten, welche Übungen ich wie machen musste, um die Muskulatur aufzubauen und die Ausdauer zu trainieren, die Sehnen und Bänder zu stärken und den Kreislauf wie auch Puls zu kontrollieren. Zugegeben, nach diesem hervorragenden Fitnessstudio hatte ich wirklich lange gesucht. Ich hatte X verschiedene Studios aufgesucht und allein nur dafür sehr viel Zeit aufgewendet. Aber letztendlich fand ich dieses Sportstudio, das 25 km von meinem Wohnort entfernt war. Als ich es gefunden hatte, war mir klar: Hier wollte ich wirklich trainieren. Das Ambiente, die Motivation meiner Trainer, mich mental, körperlich und motivational aufzubauen, die Atmosphäre, der Preis – es stimmte einfach alles. Dafür war ich sehr gerne bereit, diese Strecke hin und zurück zu fahren. Meine Regenerationsphasen bestanden aus leichtem Schwimmen, ab und zu auch mal einem Saunagang sowie regelmäßigen Massagen. Mit diesem Aufbautraining war ich zeitlich sehr gut beschäftigt. Auch meine Ernährung stellte ich um, so dass meine Organe, die Knochen, Muskulatur u.a.m. mit allen Nährstoffen versorgt wurden, die sie brauchten.
Anfangs war ich Feuer und Flamme, trainierte zusätzlich täglich auch zu Hause in kleineren Kraftsport- und immer länger werdenden Laufeinheiten und träumte vom Marathonlauf in New York. Doch nach einer gewissen Zeit blieb die Leistungssteigerung aus. Der Hohn und Spott war mir gewiss, was mich sehr ärgerte. Langsam, aber sicher, verließ mich der Mut. Meine Trainer klärten mich auf, dass ein Leistungsstopp ganz normal ist und dieser immer mal wieder erfolgen wird. Ein Körper ließe sich nun mal nicht kontinuierlich hochtrainieren. Das machte mir wieder Hoffnung und motivierte mich erneut in meinem Vorhaben. Mit meiner Leistungsfähigkeit ging es tatsächlich auf und ab, oder sie stagnierte. Wie auch immer, ich hatte mein Ziel, das ich erreichen wollte und eines Tages würde ich es bestimmt erreichen.
Vier Jahre vergingen. Ich war inzwischen 67 Jahre alt und absolut top fit! Mein Körper hatte sich erkennbar verändert. Ich war schlank, muskulär „drahtig“, also nicht zu viel und nicht zu wenig, meine Organe funktionierten perfekt, alle medizinischen Werte waren auf dem besten Stand und ich fühlte mich inzwischen wie neu geboren. Ich empfand eine ganz andere Lebensfreude, war deutlich stressresistenter und unternehmungslustiger geworden und ich hatte mich zu einem durchweg positiven Mensch entwickelt. Der Neid derer, die mich anfangs und über eine lange Zeit hinweg eher bewitzelten, war mir gewiss. Nun fragten sie mich, was ich mir oder ihnen beweisen wollte? Ob ich das alles für mein Ego bräuchte? Oder man zuckte nur müde lächelnd mit den Schultern und meinte, ich sollte machen, was ich wollte, aber es interessiere sie nicht weiter. Zu den zwischenzeitlichen Wettläufen in meiner Altersklasse war nie jemand aus der Familie- oder dem Freundeskreis gekommen. Anfangs, weil sie mich für einen Spinner hielten und später aus Missgunst.
Ich flog nach New York und lief fünf Tage später den Marathon. Die Platzierung war mir egal. Wichtig war nur, die Strecke in einer für mich guten Zeit zu bewältigen. Einer meiner Trainer aus dem Fitnessstudio flog als Betreuer auf eigene Kosten mit. Das Erlebnis wollte auch er sich nicht entgehen lassen.
Die Stimmung vor Ort war grandios. New York war für mich eine zwar sehr laute, aber auch gigantische, wunderschöne Stadt, mit ganz viel Flair, Sehenswürdigkeiten und einer Lebensart, die so ganz anders als in Deutschland war. Auf der einen Seite bekam ich auf den Straßen das Gefühl von Stress, Hektik, Tumult und auf der anderen Seite ein Lebensgefühl von „easy going“ vermittelt.
Die gesamte Organisation war perfekt. Ich war in Höchstform und überglücklich, als der Startschuss fiel. Ich schwebte innerlich, genoss die Atmosphäre, die jubelnden Zuschauer, das gesamte Drumherum, die Brücken über die ich lief, die Straßenschluchten, in denen ich mir wie ein Zwerg vorkam, so gewaltig standen die Hochhäuser Spalier. Es war überaus anstrengend, aber auch atemberaubend schön. An den Versorgungsstationen sorgte ich für genügend Flüssigkeit. Hier und da griff ich nach sogenannten „Kraftriegeln“. Immer mal wieder wurden die Straßen mit Wasser berieselt, sodass wir Läufer eine Abkühlung bekamen, denn es war unglaublich warm. Ich lief meine Geschwindigkeit, setzte mich nicht unter Druck und recht bald war ich in meinem Rhythmus, der mich über diese gewaltige Strecke laufen ließ. Am Ziel angekommen, konnte ich trotz absoluter Erschöpfung doch noch grinsen. Ich hatte es geschafft! Ich war tatsächlich in New York den Marathon gelaufen! All meine vorherigen Anstrengungen hatten sich ausgezahlt! Ich war der Größte! Meine riesige Freude über meinen ganz persönlichen Sieg, ließen mich meine Schmerzen und Erschöpfung nicht spüren. Ich war so voller Adrenalin, dass ich meine blutigen Füße gar nicht spürte. Mein Trainer und ich lagen uns mit Tränen in den Augen in den Armen. Anschließend kümmerte er sich rührend um mich und meine geschundenen Füße. Abends waren wir noch kurz in einer Art Bar und feierten meinen persönlichen Sieg. Danach fiel ich todmüde ins Bett und schlief mich aus. In den nächsten drei Tagen sahen wir uns New York an und genossen unser pures Lebensglück.
Auf unserem Rückflug geriet ich ins Grübeln. Ich fragte mich, was ich hier eigentlich gemacht hatte? Rannte ich vor etwas weg? Vielleicht auch vor mir selbst? Warum brauchte ich diese Herausforderung, die sowohl von mir, als auch von meiner Familie und meinen Freunde Opfer kostete? Auf wie viele Partys und Feste musste meine Frau alleine gehen, weil ich einen Wettkampf hatte oder kurz vor ihm stand? Sie kochte mir all die Jahre mein Essen extra. Ich belastete sie also doppelt. Hatte ich es ihr überhaupt jemals gebührend gedankt oder war das für mich eine ungebührlich geforderte Selbstverständlichkeit, weil sie ja meine Frau ist, die für Haushalt und Essen sorgt? Ich glaube nicht. Für mich war alles so selbstverständlich, dass ich gar nicht darüber nachdachte, was mein Ziel für Dritte bedeutete. Meine Kinder und Enkelkinder mussten so manches Mal auf mich verzichten, weil ich mit meinem Ziel beschäftigt war und gar keine Aufmerksamkeit mehr für sie und ihre Wünsche hatte. Selbst Geburtstagsfeiern innerhalb der auch größeren Familie und meiner Freunde ließ ich für mein Ziel sausen, egal was die anderen davon hielten. Mein Ziel, den Marathon in New York zu laufen, war das non plus Ultra. Da ging nichts drüber. Mir wurde bewusst, wie überaus egoistisch ich gedacht und entschieden hatte! Jeder und alles musste sich meinem Traum unterordnen. Was hatte ich „angerichtet“, nur um ihn zu verwirklichen. War mein Ziel das alles wirklich wert?
Was ist mir heute überhaupt wichtig für mich selbst? Die vielen Opfer, die ich für meinen Erfolg erbringen musste; meine Frau und Familie, die oft zurückstecken mussten; die Freunde, für die ich in den letzten Jahren weniger Zeit hatte - was hatte und hat das heute für mich für Folgen? Wie viele gute Freunde hatte ich in den letzten 4 Jahren verloren? War es das wirklich wert?
Die letzten 4 Jahre waren für mich ein einziger Kampf, dem ich alles und wirklich alles untergeordnet hatte. Angetrieben durch die Demütigungen, die ich anfangs von vielen Dritten erfuhr, war ich zu einem unerbittlichen Kämpfer geworden. Die anderen durften kein Recht behalten. Und so setzte ich meine Priorität, den Marathonlauf. Alles ordnete ich ihm unter – auch mich und meine anderen Bedürfnisse, die im Laufe der Zeit gar nicht mehr gefühlt waren.
Warum brauchte ich diesen Kampf, diesen Selbstbeweis? Für mein Ego? Hatten meine Freunde, die mir das zuvor schon sagten, vielleicht doch recht oder war es ihrerseits wirklich Neid? Als so psychologisch Sicher empfand ich meine Freunde und auch meine Familie nämlich nicht. Es gibt den Satz: Neid ist das größte Kompliment, das man erhalten kann.“ Ich beschloss, dass die Kommentare meiner Freunde purer Neid waren. D.h., über sie dachte ich nicht mehr nach. Sie hatten für mich geistig ausgesprochen die Aufgabe, wofür sie sich schon alles in ihrem Leben eingesetzt hatten, weil die der festen Meinung waren, das für sie oder andere Richtige zu tun. Und nichts anderes hatte ich getan. O.k. Die Freunde waren raus.
Mir fiel aber mein Vater ein. Unter ihm musste ich mich ständig beweisen. Nichts konnte ich ihm recht machen. Selbst an einer „guten“ Leistung in Schule oder Beruf fand er Kritik, weil sie eben nicht „sehr gut“ war. Und selbst, wenn sie „sehr gut“ war, war sie eben nicht „brillant“. Er war ein Perfektionist vor dem Herrn. Keiner war besser als er, sondern er war grundsätzlich der noch Bessere, der noch Perfektere, der noch Wissendere, der noch Kämpferischere, der noch Willensstärkere, der noch Erfolgreichere, der noch … Unter ihm hatte ich ständig das Gefühl, zu versagen, meine Ziele niemals erreichen zu können, was aufgrund seines Drucks oft genug geschah. Für ihn war ich nie gut genug. Für ihn fehlte es mir am richtigen Biss, Ehrgeiz, an Motivation, Intellekt, Zielstrebigkeit und vor allem Egoismus. Lag hier „der Hund begraben“? Wollte ich endlich mal etwas schaffen / etwas erreichen, dass nur für mich war? Wollte ich für mich selbst etwas erreichen, womit ich ihm endlich mehr als nur das Wasser reichen konnte? Warum wollte ich genau das erreichen? Warum war ich immer noch nicht in der Lage, ihm innerlich oder ganz direkt zu sagen, dass mich seine Einstellung mir gegenüber nicht interessiert? Ich erkannte auf meinem Rückflug von den USA nach Deutschland, dass er seine eigenen negativen Gefühle über sein Selbst auf mich übergestülpt hatte. Er war mit sich selbst nicht zufrieden und machte mich zu einem Menschen, der grundsätzlich nur unter ihm stehen konnte, egal, was ich leistete, damit er sich erhoben fühlen konnte. Ich erkannte, dass meine Erziehung und Beziehung zu meinem Vater mich dieses wahnsinnige Projekt hat beginnen und durchziehen lassen.
Heute habe ich verstanden, was hinter meinem Vorhaben steckte, hinter dem disziplinieren Ehrgeiz mit Verzicht auf wertvolle Lebensqualität.
Nun stand für mich nur noch die Frage offen, wie ich vor allem von meiner Frau, meinen Kindern, Enkelkinder und den vielen anderen Menschen wieder gut aufgenommen werden konnte. Sie hatten wirklich sehr lange unter meinem Ziel leiden müssen. Und wie gesagt, es hatten sich zum Teil auch gute Freunde von mir verabschiedet?
Ich landete in Deutschland. Mein persönlicher Sieg war mir gar nicht mehr wichtig. Was hatte er mir eingebracht? Insofern war ich auch nicht darüber enttäuscht, nur von meiner Frau freundlich begrüßt worden zu sein und sie mir kurz gratulierte. Als ich registrierte, dass nur noch sie vor mir stand, wusste ich, dass nun ich derjenige war, der seine Liebe für die Familie, Enkelkinder und Freunde wiedergewinnen und ihnen allen deutlich machen musste. Aber wie?“